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E-Health-Reportage

Mehr Service, weniger Belastung: E-Health als wichtiger Baustein im Praxisalltag von Landärzten
Reportage vom 27.02.2018
Dr. Jan Purr ist Landarzt im Werra-Meißner-Kreis in Nordhessen und ein Vorreiter der Nutzung von E-Health-Lösungen. Dank der modernen Technik und seines speziellen Praxiskonzepts hat er eine Lösung für die schwierige ärztliche Versorgung im ländlichen Raum gefunden.

Wir haben so insgesamt deutlich längere Öffnungszeiten, die Ärzte sind bei Bedarf schneller verfügbar und die Budgetrestriktionen können wir im Team verbessern.

Wer durch Großalmerode fährt, bemerkt sofort die vielen gut erhaltenen Fachwerkhäuser. Ansonsten hat das 6.500-Einwohner-Städtchen vor allem eines zu bieten: eine idyllische Umgebung. Weite Wiesen und geschwungene Hügel prägen das Bild, vom bekannten Panoramabad hat man einen tollen Blick über den Geo-Naturpark Frau-Holle-Land. Passend dazu hat es in der Nacht geschneit.

Großalmerode liegt inmitten des Werra-Meißner-Kreises – und wie in so vielen ländlichen Regionen in Deutschland nimmt die Bevölkerungszahl ab. Statistiker rechnen bis 2025 mit einem Rückgang von 18,5 Prozent. Trotzdem kann sich Dr. Jan Purr nicht über mangelnde Arbeit beklagen. Er ist Landarzt in der Region. Genau wie sein Vater und sein Großvater vor ihm. „In den letzten Jahren sind viele Hausärzte in Rente gegangen – oft ohne Nachfolger“, erklärt er und rückt seine Brille zurecht. Die Folge: Mehr Patienten für die übrig gebliebenen Praxen. Hinzu kommen die allgemeine demographische Entwicklung sowie die Abwanderung jüngerer Bewohner. „Unsere Patienten sind daher im Schnitt älter als in den Städten und oft multimorbid“, sagt Jan Purr. Das heißt, sie leiden allein aufgrund der Lebensjahre an mehreren Erkrankungen parallel. „Zudem werden auch chronisch kranke Menschen heute älter und werden entsprechend über viele Jahre von uns begleitet und therapiert.“

Zusammenlegung als Chance – und Notwendigkeit

So sind Versorgungsengpässe und lange Wartezeiten auf dem Land heute eher Regel als Ausnahme. „Wir haben bei uns die Terminsprechstunden letztendlich abgeschafft“, so Dr. Purr. „Das hat so einfach nicht mehr funktioniert. Die medizinischen Probleme der Patienten sind einfach zu vielfältig, um sie in ein Zeitfenster von fünf bis zehn Minuten zu packen. “ Doch der Arzt hat sich den Gegebenheiten schon früh angepasst. Im Jahr 2009 fusionierte Jan Purr mit einer anderen alteingesessenen Gemeinschaftspraxis in der Region, 2015 folgte eine weitere. Heute arbeiten im ‚Gesundheitszentrum Geistertal’ acht Ärzte und ein Assistenzarzt als Team – über drei Standorte hinweg. Das bringt Vorteile für alle Seiten: „Wir haben so insgesamt deutlich längere Öffnungszeiten, die Ärzte sind bei Bedarf schneller verfügbar und die Budgetrestriktionen können wir im Team verbessern.“ Auch die Mediziner profitieren von einer besseren Work-Life-Balance und natürlich vom fachlichen Austausch untereinander.

Für die Patienten bedeutet das aber gleichzeitig, dass sie nicht für jedes Problem denselben festen Arzt mehr haben. Nicht nur aufgrund der jeweiligen Verfügbarkeit, sondern auch weil die Ärzte im Gesundheitszentrum rotieren. „Das war für viele anfangs gewöhnungsbedürftig – aber die Vorteile überwiegen“, so Dr. Purr. Umso wichtiger sei es, dass das Team ähnlich tickt. „Wir haben schon früh einen Qualitätszirkel eingeführt und uns gemeinsam einen einheitlichen Standard für die Betreuung erarbeitet.“ Doch wichtig ist dabei natürlich, dass jeder Arzt aus dem Gesundheitszentrum Geistertal Zugriff auf die Daten und Krankheitsgeschichte des jeweiligen Patienten hat und, so Purr weiter: „Ganz abgeschafft ist die freie Arztwahl und –bindung bei uns natürlich nicht. Komplexe Fälle verbleiben nach Möglichkeit bei einem oder maximal zwei Ärzten.“

Die Akte immer zur Hand

Wie das funktioniert, erklärt Jan Purr im Keller seiner Praxis. Dort steht das Herzstück der modernen E-Health-Lösung – ein mannshoher Server. „Wir haben bei uns die elektronische Patientenakte eingeführt“, erklärt der Familienvater stolz. Jeder Arzt kann mit seinem Computer oder mobilen Endgerät von überall auf die notwenigen Unterlagen zugreifen, ist so immer auf dem neusten Stand und kann direkt von unterwegs Diagnosen und Befunde eintragen. Die bestehende Software hat das Team selbst angepasst und vernetzt. „Aktuell haben wir rund 25 Terminals, die mit unserem Server verbunden sind.“

Doch nicht nur die Ärzte, auch die fahrenden Arzthelferin der Praxen aus dem Geistertal haben Zugriff auf die elektronische Patientenakte. Denn sie sind eine wichtige Komponente des besonderen Konzepts des Gesundheitszentrums. Sie entlasten die Ärzte und besuchen routinemäßig eine Vielzahl von Patienten – vor allem jene, die nicht mehr so mobil sind. Was schon der Vater von Dr. Jan Purr in den 1990ern einführte, hat sein Sohn zusammen mit den Kollegen noch einmal intensiviert. Heute gibt es zwei fahrende Arzthelferin und eine spezialisierte Wundtherapeutin. „Die Fachkräfte haben eine spezielle Checkliste, die sie je nach Patient und Situation anpassen“, erklärt Dr. Purr. Sie schauen zunächst, wie die Wohnung insgesamt aussieht oder wie es riecht. Außerdem wird meist der Blutdruck gemessen, Blut abgenommen und die Füße kontrolliert.

All diese Daten pflegen die Kolleginnen in die elektronische Akte ein – und besprechen sich bei Bedarf noch einmal mit den Ärzten. „Wenn es brennt, reagiert man natürlich sofort und ruft entweder den Arzt zu Hilfe oder direkt den Krankenwagen“, sagt Margit Harms. Sie war die erste fahrende Arzthelferin in Großalmerode und über viele Jahre mit ihrem bunten Polo Harlekin unterwegs. Heute fährt sie zwar nicht mehr raus, aber sie telefoniert regelmäßig die Patienten ab, horcht nach, wie es geht und wo Bedarf für einen Besuch der Kolleginnen besteht. „Ich bin mit meinen Kunden alt geworden, doch wir sind alle immer noch die Mädels“, sagt Margit Harms lachend und mit einem strahlenden Blick. „Ich habe meinen Job geliebt, auch wenn es natürlich hart ist, wenn ein Mensch stirbt, den ich über viele Jahre betreut habe.“ Entsprechend wichtig ist es, einen gewissen Abstand zu bewahren. „Doch ohne eine große Portion Sozialkompetenz und Einfühlungsvermögen wäre man falsch in dem Beruf“, sagt Dr. Purr. Auch die Patienten waren und sind froh über den Service. Denn schließlich sind viele ältere Menschen auch auf dem Land tendenziell allein, die Verwandten leben oft in der Stadt. „Anfangs gab es fast überall Kaffee und Kuchen, wenn man kam“, sagt Margit Harms und grinst ihren Chef an. Man merkt, dass die zwei sich seit Ewigkeiten kennen – und auch sonst herrscht in der Praxis eine familiäre Atmosphäre.

Problem: Schnittstellen

Wenn die Menschen im Alter regelmäßiger Pflege bedürfen, fallen sie oft ein wenig durchs Raster bei den Hausärzten. Nicht so im Gesundheitszentrum. „Wir tauschen uns eng mit dem regionalen Pflegedienst aus“, erklärt Dr. Purr. So sind auch hier beide Seiten immer auf demselben Stand und können den Patienten optimal begleiten. Selbst mit der Klinik sind die Ärzte eng vernetzt. Gemeinsam nutzen sie das sogenannte Arztportal, eine Softwarelösung, die es in ganz Deutschland gibt, die aber noch zu selten genutzt wird. Wie das funktioniert, erklärt Dr. Purr an seinem Rechner: „Ich habe über das Programm Zugriff auf Livedaten meiner Patienten, die gerade im Krankenhaus liegen.“ Mit zwei Klicks hat er Einblick in Befunde und auf die letzten Laborwerte und kann sich sogar EKGs aus der Klinik auf den Praxisserver laden. „Das hilft uns auch, wenn Angehörige kommen, die nicht genau wissen, was los ist und die Ärzte im Krankenhaus nicht genau verstanden haben.“ Einziges Problem: Bei vielen dieser modernen technischen Lösungen gibt es Probleme an den Schnittstellen. „Nicht alles ist kompatibel und wir müssen dann sehen, dass wir das mit Extralösungen in unser System einpflegen können.“ Hier bedarf es noch viel Arbeit, um in Zukunft eleganter, schneller und mit weniger Aufwand E-Health nutzen zu können. „Aber vielleicht hilft uns das neue IT-Telematik-Gesetz ja dabei, einen einheitlichen Standard zu schaffen“, so Dr. Jan Purr. Sicher ist für den Landarzt nur: „E-Health soll dem System dienen und nicht umgekehrt.“

Jan Purr jedenfalls ist mit seinem Konzept Vorbild. Oft wird er für Vorträge an Healthcare-Akademien angefragt oder bekommt Besuch von interessierten Kollegen. Er selbst hat noch viele Ideen parat: „Wir wollen unsere Medienpräsenz noch weiter ausbauen und auch über Facebook und Youtube den Draht zu den Patienten halten.“ Noch sei die Mehrheit seiner Patienten vielleicht noch nicht internetaffin genug. „Aber auch das ändert sich ja aktuell rasant.“ Und so sind Videosprechstunden mit dem Arzt vielleicht nicht mehr fern der Realität – zumindest in Großalmerode im Frau-Holle-Land.