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E-Health-Reportage

Apps auf Rezept: Wie digitale Anwendungen der Gesundheit auf die Sprünge helfen
Reportage vom 12.06.2023
Es begann mit einem Pfeifen. „Das Geräusch zog von einem Ohr zum anderen“, sagt Tamara Müller* und verzieht gequält das Gesicht. „Es war nicht täglich da, aber gerade in stressigen Situationen wurde es schlimmer.“ Später kamen noch andere Geräusche hinzu, die die junge Frau nicht konkret in Worte fassen kann. „Es war sehr unangenehm und hat meine Lebensqualität stark beeinträchtigt.“ Gerade das Einschlafen fiel Tamara schwer.

Tinnitus – so lautete die offizielle Diagnose. Und damit ist Tamara Müller nicht allein. Rund 19 Millionen Deutsche haben bereits einmal einen Tinnitus erlitten. Häufig treten die Beschwerden nach einem lauten Konzert oder einem Knalltrauma auf. Dann stehen die Chancen gut, dass die Geräusche wieder verstummen. Doch bei schätzungsweise 2,7 Millionen von ihnen wird der Tinnitus chronisch. Je nach Ausprägung brummt, klingelt, zischt oder piept es bei ihnen dauerhaft im Ohr. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.

Rund 19 Millionen Deutsche haben bereits einmal einen Tinnitus erlitten.

Die Ursachen sind vielfältig

„Tinnitus ist keine eigenständige Erkrankung, sondern ein Symptom bei ganz unterschiedlichen Störungen“, erklärt Dr. Dirk Reußner, HNO-Arzt im hessischen Friedrichsdorf. Wie genau er entsteht, ist unklar. Die Ursachen sind vielfältig: Ein verhärteter Pfropf aus Ohrenschmalz, eine Entzündung oder ein zu hoher Blutdruck können ebenso zu den nervigen Geräuschen führen wie Probleme am Kiefer oder an der Halswirbelsäule. Auf der psychischen Ebene sind Stress oder ein Burnout häufige Auslöser. „Wir müssen also erstmal herausfinden, ob ein organisches Problem vorliegt“, so der Experte. Ist das nicht der Fall, bleibt leider nur eines: „Die Betroffenen müssen verinnerlichen, dass ein Tinnitus selbst ungefährlich ist und lernen, gelassen mit den Geräuschen umzugehen.“

Doch das ist leichter gesagt als getan. Nicht selten geraten die Patienten in einen Teufelskreis: Fokussieren sie sich zu sehr auf die Geräusche, nehmen sie diese immer intensiver wahr. Bei manchen führt das sogar zu Angststörungen oder Depressionen. „Früher haben wir daher häufig eng mit Psychotherapeuten zusammengearbeitet, aber heute bekommen Tinnitus-Patienten dort kaum noch Termine oder müssen sehr lange warten“, so Dr. Reußner. Hier kommt ein recht neues Behandlungsspektrum ins Spiel: digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA). Im Volksmund spricht man auch von Apps auf Rezept.

Die Erkrankung kontrollieren lernen

Ein solches Rezept stellte Dr. Reußner auch Tamara Müller aus. Sie mailte es anschließend ihrer Krankenkasse und bekam von ihr einen Link zur Freischaltung der DiGA. „Die App selbst besteht aus zehn Lektionen mit vielen Informationen, aber auch konkreten Anregungen und Tipps dazu, wie man als Patient den Tinnitus kontrolliert – und nicht umgekehrt“, erzählt Tamara. Eine Einheit pro Woche – so die Idee der Entwickler. Aber natürlich kann man die Lektionen im eigenen Tempo absolvieren, an jedem Ort und zu jeder Zeit.

Dennoch erfordert die Nutzung ein hohes Maß an Disziplin, gerade weil es viele Inhalte sind. Doch bei den meisten Anwendern ist der Leidensdruck wie auch das Interesse groß. „Gerade in stressigen Phasen versuche ich, die passenden Tipps bewusst umzusetzen.“ Vieles sei Übungssache und auch eine Frage der inneren Haltung. „Aber mir hat die App sehr gut geholfen und ich habe viel Lebensqualität zurückgewonnen“, so das Fazit von Tamara. Ein besonderes Plus ist die Seriosität der Anwendung: „Es macht für mich schon einen großen Unterschied, dass die App vom Arzt verschrieben wird. Das gibt mir ein sicheres Gefühl.“

Das sieht auch Dr. Dirk Reußner so: „Die Informationen sind evidenzbasiert und fachlich auf hohem Niveau. Und wir müssen uns in der Praxis nicht als Verkäufer fühlen, sondern können es guten Gewissens verschreiben.“ Natürlich sei so eine App nicht für alle gleich gut geeignet. Gerade ältere Patienten erreiche man damit nur schwer. „Aber diejenigen, die es nutzen, bekommen ein gutes Werkzeug an die Hand, um den Umgang mit ihrem Tinnitus zu lernen. Und für ist die App das eine tolle Möglichkeit, unsere Patienten zeitnah zu versorgen und sie so langfristig begleitet zu wissen.“

* Name geändert

Was sind Apps auf Rezept?

Das Ziel der Bundesregierung ist es, den Digitalisierungsprozess im deutschen Gesundheitswesen voranzutreiben. Ein wesentlicher Baustein dabei ist das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG), das Ende 2019 in Kraft trat. Neben der elektronischen Patientenakte (ePA) sowie Angeboten wie die Videosprechstunden sind hier auch die Grundlagen hinterlegt zur Verschreibung von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA).

Um als DiGA anerkannt zu werden, muss die Anwendung bereits zuvor als Medizinprodukt CE-zertifiziert worden sein. Der Hersteller kann dann beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) einen Antrag stellen. Das BfArM prüft innerhalb von drei Monaten unter anderem, ob das Produkt datenschutzkonform ist und ob der Antragsteller anhand wissenschaftlicher Daten belegen kann, dass die DiGA einen konkreten „positiven Versorgungseffekt“ für Patienten bietet oder diesen – während einer zunächst vorläufigen Aufnahme ins offizielle DiGA-Verzeichnis – durch weitere Erhebungen und Analysen nachweisen kann. Aktuell sind 45 DiGA verordnungsfähig, sie stehen im DiGA-Verzeichnis des BfArM.

Die „Meine Tinnitus App - Das digitale Tinnitus Counseling“ in ein anerkannter Behandlungsweg und wird für Patienten zur Erstversorgung eingesetzt. Durch die Anwendung konkreter Maßnahmen und etablierter Techniken können die Nutzer ihre Tinnitus-Belastung verringern. Die App steht den Patienten zwölf Monate zur Verfügung und beinhaltet auf den Tinnitus zugeschnittene Multimedia-Inhalte. Dabei wird jede der zehn Lektionen mit einer Überprüfung abgeschlossen, um wenige Tage später die nächste Lektion starten zu können.