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06. Nov 2018

"Digitalisierung allein ist kein Geschäftsmodell"

Interview mit Prof. Dr. Kurt Marquardt, Universitätskliniken Gießen und Marburg

(hcm-magazin.de) Es ist eine der großen Herausforderungen für Krankenhausleitungen der Gegenwart: der richtige Umgang mit dem digitalen Wandel und dessen Integration in die Ausrichtung des Hauses. Prof. Dr. Kurt Marquardt, Beauftragter „Wissenschaftliche Fragestellungen im IT-Umfeld“ am Uniklinikum Gießen und Marburg, hat einen Weg gefunden. 

„Laptop, Laptop in der Hand, zeig mir das schönste Geschäftsmodell im Land“, mit diesen Worten begann Prof. Kurt Marquardt von den Universitätskliniken Gießen und Marburg seinen Vortrag auf der diesjährigen conhIT in Berlin. Seine Ausgangsfrage, die Suche nach neuen Geschäftsmodellen in Zeiten des digitalen Wandels, ist aktueller denn je. Eine allgemeingültige Antwort gibt es nicht. Allerdings verlangt die Suche danach – die durchaus von Erfolg gekrönt sein kann, wie das Beispiel der Uniklinik Gießen und Marburg zeigt – laut Marquardt einen elementaren Grundgedanken: Wenn die Frage nach einem Geschäftsmodell aufkommt, sollte man im Sinne eines Versorgungskonzeptes denken. Es müsse primär um die Gesundung des Patienten oder dessen Leidensminderung gehen. Diese Denkweise muss auf einer effizienten Prozessgestaltung aufgebaut sein, die aber nicht rein kostenorientiert sein und v.a. nicht die Leistungsdimensionen in den Fokus rücken darf.

Digitalisierung spielt dabei eine starke Rolle, auch wenn sie kein Allheilmittel ist. „Digitalisierung ist für intelligente, optimierte Prozesse und Versorgungsmodelle das Mittel zum Zweck“, betont Marquardt. Auf keinen Fall darf sie der Prozessinitiator sein – ein wichtiger Gedanke! Ebenso wie: Digitaler Wandel allein ist weder Geschäftsmodell noch Heilsbringer. Er darf laut Marquardt nur zur Orientierung dienen. Noch ein Punkt ist zu beachten: „Das Verständnis für Digitalisierung ist bei den meisten Entscheidern noch in den Kinderschuhen oder wird von kurzfristigen Überlegungen blockiert. Die Ärzteschaft dagegen ist der Treiber“, sagt Marquardt. Im Interview mit HCM erklärt er, wie man es schafft, sein Geschäftsmodell auf ein neues, digitales umzustellen.

HCM: Sie betonen, dass Krankenhäuser kein Geschäfts-, sondern ein Versorgungsmodell brauchen. Sollte das nicht selbstverständlich sein?

Prof. Marquardt: Die beiden Begriffe schließen sich nicht unbedingt gegenseitig aus. Aus meiner Sicht sollte allerdings bei allen Überlegungen zur Strategie vorab immer das erforderliche Leistungsportfolio zur Diagnostik und Behandlung im lokalen und regionalen Umfeld in der Differenzierung nach Ambulanz- und Stationsgeschehen geplant werden. Erst im zweiten Schritt sollte man nach Maßgabe erwarteter Erlös- und Kostenstrukturen über die Geschäftstauglichkeit nachdenken. Letztere ist also nicht die Primärüberlegung zur Versorgungsstrategie, sondern eine Art Controllinginstanz. Ein Versorgungsmodell wird im betriebswirtschaftlichen Sinn zum Geschäftsmodell, wenn das Angebot und die Erbringung medizinischer Leistungen nicht nur kostendeckend sind, sondern ein EBIT erzielen. Alle Planungen zur medizinischen Versorgung sind ausschließlich vom Gesundungsziel geprägt, müssen aber wirtschaftlich sein.

HCM: Wie kann man Digitalisierung für Krankenhäuser „haptisch“ beschreiben?

Prof. Marquardt: Digitalisierung ist nicht in der Lage, den medizinischen Leistungsprozess zu substituieren. Allerdings kann Digitalisierung diesen spürbar optimieren. Die Konsolidierung vorhandener digitaler Daten und die sinnvolle Digitalisierung nicht erschlossener Arbeitsumgebungen sind die Grundvoraussetzung. Auf Basis dieser Daten wird das ,,digitale Ego‘‘ des Patienten präsenter und seine Behandlung zielgerichteter. Aus den Daten erzeugtes Wissen und dessen Nutzung geben der individualisierten Medizin neue Impulse. Letztlich sind es auch Überlegungen zu IOT, die den Versorgungsprozess optimieren können. Digitalisierung ist zunächst ein leeres Ziel. In der prozessbezogenen Komplementärfunktion kommt ihr eine überragende Rolle zu.

HCM: Digitalisierung ist wertlos, wenn sie nicht nach Prozessstrategie adaptiert ist? Wie kann man das verhindern?

Prof. Marquardt: Digitalisierungsüberlegungen lassen sich nicht von der Aktualität des Themas und dessen scheinbarer Innovationskraft treiben. Sie stellen vielmehr den eigenen Betrieb mit seinen Prozessketten auf Optimierungspotenzial durch ,,digitale Unterstützung‘‘ in den Mittelpunkt. Das schließt auch Anpassungen des Leistungsportfolios aufgrund digitaler Ergänzungen nicht aus. Das Betriebsgeschehen muss die Digitalisierung treiben, nicht umgekehrt.

HCM: Gibt es bei der Vielzahl an verfügbaren und eingesetzten Geschäftsmodellen eines, das am erfolgreichsten ist?

Prof. Marquardt: Das erfolgreichste Geschäftsmodell ist genauso wenig identifizierbar wie das am häufigsten genutzte. Erfolg im Krankenhaus hat zwei Achsen. Aus wirtschaftlicher Sicht ist es das EBIT, aus Versorgungssicht die Leistungsqualität. Diese beiden Ziele sind nicht immer komplementär und stehen oft in Konkurrenz. Es muss eine Balance gefunden werden. Für mich sind all jene Geschäftsmodelle am erfolgreichsten, die dem Patienten bei Heilung oder Leidensminderung Vorteile bringen und bezahlbar bleiben.

HCM: Stellt das „Sammelsurium“ an Geschäftsmodellen Krankenhausleitungen vor große Herausforderungen? Wenn ja, wie wird man diesen gerecht?

Prof. Marquardt: Man darf den Begriff ,,Sammelsurium‘‘ nicht automatisch negativ belegen. Klinikleitungen sollten auf der Basis modernster Medizinoptionen im Umfeld des lokal vorhandenen Leistungsportfolios Strategien für das eigene Haus entwickeln. Natürlich sollten sie auch das Erfahrungspotenzial anderer Häuser berücksichtigen. Es wird aber nie die eine Strategie sein, sondern immer ein Muster aus Teilstrategien, die sich aus der Zusammensetzung der klinischen Abteilungen, dem regionalen Umfeld und den internen Synergien ergeben. Wichtig erscheint mir nur, dass solche Strategien unter Berücksichtigung der medizinischen, technischen und auch kaufmännischen Innovationsaspekte überhaupt erarbeitet und umgesetzt werden. Es ist Aufgabe der Leitung, das Big Picture zu erarbeiten. Aus solchen vernünftigen Strategien ergeben sich verschiedene interne Partialgeschäftsmodelle und unterschiedliche Geschäftsmodelle zwischen den Häusern. Deshalb muss eine IT-Strategie entwickelt werden, die dem Einklang von vertretbaren Ressourcen mit den Kosten gerecht werden kann.

HCM: Wie schafft man es, sein Modell auf ein digital orientiertes umzustellen?

Prof. Marquardt: Zunächst steht ein Geschäftsmodell dann auf dem Prüfstand, wenn es versorgungstechnisch oder wirtschaftlich defizitär ist. Ist dies nicht der Fall, stellt man die Frage, ob es Optimierungspotenzial durch Digitalisierung gibt. Stellt man das Geschäftsmodell in Frage, muss man (unabhängig vom Digitalisierungsgrad) ein neues entwickeln.

Losgelöst davon muss der Grad der Digitalisierung leistbar und bezahlbar bleiben. Jetzt kommt das Thema „Modularer Querbaukasten (MQB) in der Krankenhaus-IT“ zum Tragen. Vereinfacht kann man das wie folgt definieren: Nicht für jedes Geschäfts-/Partialmodell muss ein vollständig eigenes IT-Kommunikations- und Datenmodell umgesetzt werden. Der Querbaukasten muss für beliebige Geschäftsmodelle ohne Anpassungsaktivitäten viele der IT-technischen Anforderungen basismäßig erfüllen. Mit MQB sind wir in Gießen auf dem richtigen Weg. An einigen Teilprojekten konnten wir nachweisen, was MQB leisten kann.

HCM: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, das MQB-Modell aus der Autoindustrie zu adaptieren?

Prof. Marquardt: Ausgangslage war die Suche nach adaptierbarer IT-Lösungen bei verschiedensten Geschäftsmodellen. Dann ist mir eine Masterarbeit über MQB in die Hände gefallen. Die Initiative zu MQB in der Autoindustrie hatte zwar nichts mit Digitalisierung zu tun, aber die Grundproblematik glich der unseren: zu häufiger Um-/Ausbau von Produktionsstraßen, ein immer besser informierter Kunde, Innovationsspirale, „Kundenkonfiguration“ im Internet und ausufernde Kosten etc. Mit der Entwicklung des MQBs hat sich VW dem gestellt. Grundidee war, unabhängig von Serie, Typ und Modell ein Basisbauteil zu haben, aus dem mit Ergänzungskomponenten das spezielle Auto gefertigt werden kann. Da das Chassis die Plattform aller Automobile ist, hat VW dort den Gedanken des MQBs aufgegriffen. Mit den Varianten des modularen Quer- und Längsbaukastens in Form des ,,Basis-Chassis‘‘ hat es VW geschafft, enorme Kosten zu sparen, ohne die Produktvielfalt und Individualität der Konfiguration einzuschränken. Diese Denkweise habe ich auf die IT im Krankenhaus übertragen. Es musste eine Kommunikationsumgebung geschaffen werden, die es ermöglicht, die unterschiedlichen Geschäfts- und Prozessmodelle mit einer IT-Grundfunktionalität ohne IT-Zusatzaufwand zu unterstützen, um diese Grundstruktur nur noch mit fallspezifischen Ergänzungskomponenten zu unterfüttern. Das Basis-Chassis stellt sich in der IT als leistungsstarkes und kommunikationsfreudiges Archiv dar. Ausgestattet mit weitreichenden Funktionalitäten, einschließlich einer MINI-PACS-Umgebung, modernen Kommunikationsstrukturen (EHE, FHIR, HL7 etc.), einer Repositoryumgebung und dem Komplettinhalt der anfallenden Daten ist dieses Archiv das Arbeitstier für das Grobe im Informationsmanagement. Das Archiv ist der Pflichtfaktor im Datenmanagement, der die Kür für die Feinabstimmung der Projekt-IT ermöglicht.

HCM: Wie kann ein System, das auf Datenstrukturierung abzielt, beim Finden des Versorgungsmodells helfen?

Prof. Marquardt: Der Aufbau einer solchen MQB-IT-Architektur und Funktionsumgebung ist als Plattform zur ganzflächigen Datenkonsolidierung, zur Strukturierung, Harmonisierung und Bearbeitung der Daten nach Maßgabe von Interoperabilitäts- und Anfragekriterien und letztlich zur Bereitstellung von Daten zu sehen. Wenn man diese Plattform erstellt hat, kann jedes Haus damit einen hohen Grad des notwendigen Datenmanagements abdecken und muss lediglich die dann noch spezifischen Restanforderungen datentechnisch projektieren.

HCM: Heißt das, Versorgungsmodelle stammen in digitalen Zeiten eher von technischer Seite ab?

Prof. Marquardt: Genau dieser Aussage widerspreche ich vehement. Digitalisierung wird nie über den Status der ,,Werkzeugkiste‘‘ hinauskommen. Versorgungsmodelle sind strategisch nach vorhandenen Defiziten zu planen und beziehen die Digitalisierung als Mittel zum Zweck in den Kreis von Problemstellungsphase, Alternativensuchphase, Entscheidungsphase, Umsetzungsphase und Kontrolle ein. Strategie erfordert Digitalisierung, aber Digitalisierung ohne Strategie und Prozesskompetenz ist wertlos.

 

Das Interview von Prof. Marquardt wurde von Bianca Flachenecker geführt. Es ist am 01.10.2018 im Magazin "Health & Care Mangement" erschienen. Wir danken für die Genehmigung der Wiedergabe.   

Datum


06. November 2018
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