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01. Dez 2020

"Jeder Arzt muss digitale Kompetenzen entwickeln"

 

INTERVIEW. Vor drei Jahren startete die Universitätsmedizin Heidelberg mit ihrem Wahlfach-Track „Digitale Medizin“ und war damit ein Vorreiter in Deutschland. Jetzt wird das Angebot ausgebaut. Ein Gespräch mit Franziska Bäßler, Daniel Gotthardt und Jens Kleesiek, die das Ganze initiiert haben und weiter vorantreiben.

 

Es wird ja oft gesagt, dass die Digitalisierung stärker in die medizinische Ausbildung getragen werden sollte. Sie haben damit am Universitätsklinikum Heidelberg 2017 Ernst gemacht. Was genau ist der Wahlfach-Track „Digitale Medizin“?
Gotthardt:
Als das Dekanat der Medizinischen Fakultät in Heidelberg vor ein paar Jahren die Möglichkeit sogenannter Wahlfach-Tracks einführte, haben Jens Kleesiek und ich 2016 im Rahmen einer fakultätsinternen Ausschreibung einen entsprechenden Track beantragt und gemeinsam mit Franziska Bäßler und ihrem Team aufgebaut. Der wurde dann ab Wintersemester 2017/2018 auch angeboten. Wir waren damit eine der ersten Fakultäten in Deutschland, die die digitale Medizin in diesem Umfang ins Medizinstudium geholt hat. Die Wahlfächer im Wahlfach-Track gehen über drei Semester mit je zwei Semesterwochenstunden, das ist also ein umfangreiches Angebot, bei dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einiges mitnehmen können.


Bäßler:
Die Wahlfach-Tracks starten nach dem Physikum und geben uns in Heidelberg etwas mehr Spielraum in dem sonst ja ziemlich verschulten Medizinstudium. Da wird viel Unterschiedliches angeboten, auch ganz andere Themen, wie Psychosoziale Medizin, Global Health, moderne Chirurgietechnik, interdisziplinäre Onkologie oder auch Notfallmedizin. Das Ganze wird zum kommenden Semester noch mal ausgebaut. Das Angebot zur „Digitalen Medizin“ wird im kommenden Semester verdoppelt und neue Kollegen, zum Beispiel aus der Bioinformatik und aus anderen Bereichen der Medizininformatik, kommen zum Dozenten-Pool dazu. Diese interdisziplinäre Lehre ist gerade bei der digitalen Medizin ganz wichtig und für die Studierenden auch sehr reizvoll.


Kleesiek:
Ich würde vielleicht noch hinzufügen, dass wir, passend zum Thema, sehr agil auf jeweils aktuelle Themen eingehen. Es ist also nicht so, dass wir uns auf ein Seminar einmal vorbereiten und dann jahrelang immer dasselbe machen. Wir haben zum Beispiel im Sommersemester 2020 sehr spontan das Thema Corona-Tracing-Apps im Rahmen einer Case Study von unterschiedlichen Seiten beleuchtet, vor allem auch Nutzen-Risiko-Aspekte, das kam sehr gut an. So ist das auch bei anderen Themen, die wir kurzfristig einbauen, wenn es einen aktuellen
Anlass gibt.

Welche Anforderungen stellt denn die digitale Gesundheitsversorgung an die Gesundheitsberufe, speziell die Ärztinnen und Ärzte?
Gotthardt:
Es ist nicht so, dass die Teilnehmer alle programmieren lernen müssen. Das ist ein Teil des Tracks, aber es geht uns nicht um einen Programmierkurs. Es geht darum, einen Überblick zu bekommen über Angebot, Technologie und Aspekte wie eben das Risiko-
Nutzen-Verhältnis digitaler Anwendungen. So wie Ärzte in der Lage sein müssen, Medikamente zu beurteilen, sollten sie auch in der Lage sein, digitale, medizinische Lösungen zu beurteilen – und vielleicht auch selbst zu entwickeln, oder die Entwicklung anzustoßen.


Bäßler
:
Es geht uns auch um eigene, praktische Erfahrungen. Die Hands-on-Seminare sind eine wichtige Teilkomponente des Tracks. Wir haben zum Beispiel im Rahmen eines Design-Thinking-Workshops eine eigene medizinische Reise-App entwickelt. Wer so einen Workshop mitgemacht hat, der ist eher in der Lage, zu beurteilen, welche Art von Design Feature einen Mehrwert in der Praxis schafft. Da sind praktische Erfahrungen ganz entscheidend; es ist sehr schwierig, sich so etwas theoretisch anzueignen. Und es ist für die teils stark faktenorientierten Medizinstudierenden eine völlig andere Art zu denken. Andere Beispiele für die starke Praxisorientierung sind Projekte zur Impfaufklärung per Videokonsultation und Projekte mit dem Heidelberger Bethanien-Krankenhaus, wo im Rahmen der Gerontotechnik bereits Sensoren zur Messung körperlicher Aktivität und Funktion eingesetzt werden. Kritisch zu reflektieren, was Technologien leisten können und wo ihre Grenzen sind, ist wesentlich einfacher und auch konstruktiver, wenn eigene Erfahrungen existieren.


Können Sie kurz einen Überblick über das aktuelle Curriculum geben?
Kleesiek:
Es gibt eine Einführung in das Programmieren mit Python, um den Appetit zu wecken, und wir entwickeln einige einfache Tools, zum Beispiel einen Chatbot. Das ist nicht immer ganz leicht, weil die Bandbreite dessen, was die Studierenden schon können oder nicht können, recht groß ist. Wir programmieren auch einfache wissenschaftliche Abbildungen, ebenfalls in Python, was unabhängig von der digitalen Medizin für die Dissertation hilfreich ist. Was das Programmieren angeht, haben wir für die nähere Zukunft den Aufbau einer interaktiven Lernplattform geplant. Die erlaubt es dann, je nach Interesse unterschiedlich tief einzusteigen. Die schon erwähnten Design-Thinking-Workshops sowie agile Methoden wie Scrum-Entwicklung gehören auch zum Curriculum. Was die inhaltliche Seite angeht, decken wir ein sehr breites Spektrum an Themen ab, von Smart Hospital über Ethik und Datenschutz, Ontologien, Sicherheit von Gesundheits-Apps und elektronischen Patientenakten bis hin zu digitaler Medikation und Radiomics. Eine sehr gelungene Veranstaltung war eine Podiumsdiskussion mit dem Landesdatenschutzbeauftragten von Baden-Württemberg und dem Vorsitzenden der Ethik-Kommission des Universitätsklinikums. Ein anderes Seminar, das mir sehr in Erinnerung ist, hatte sich mit Explainability bei Maschinenlernalgorithmen beschäftigt. Da saßen wir mehrere Stunden länger zusammen als geplant.


Was „wird“ denn aus den Studierenden? Bleiben die den digitalen Themen erhalten?
Kleesiek:
Also zum einen haben wir ja dadurch, dass es ein Wahlfach-Track ist, ein genuines Interesse bei den Studierenden. Da sind zum Beispiel schon einige dabei gewesen, die bei Start-ups aktiv mitgemacht haben. Wir haben auch nach fast jedem Semester Anfragen zu
Doktorarbeiten. Das Spannende ist ja, dass es eine Interaktion unterschiedlicher Fachrichtungen gibt, zum einen die Mediziner, die mehr als klassische Medizin machen wollen, aber auch Masterstudenten aus der Informatik. Dadurch eröffnen sich für beide Seiten neue Horizonte.


Glauben Sie denn, dass es irgendwann in Zukunft eigene „digitale Gesundheitsberufe“ geben wird? Die Stiftung Münch hat ja kürzlich im Rahmen einer Reformkommission drei neue Gesundheitsberufe quasi entworfen, darunter eine patientennahe „Fachkraft für digitale Gesundheit“ und einen „Prozessmanager für digitale Gesundheit“. Halten Sie das für realistisch?
Gotthardt:
Ich denke, auf Dauer muss jeder Arzt in diesem Bereich gewisse Kompetenzen entwickeln. Je eher, desto besser. Aber klar, gerade auch aus Unternehmenssicht wäre es interessant, ein paar stärker spezialisierte Fachkräfte zu haben. Es gibt ja zum Beispiel auch klinische Pharmakologen mit einem sehr detaillierten Medikamentenwissen. So etwas könnte ich mir schon vorstellen. Aber das Grundhandwerkszeug sollte jeder beherrschen, nicht nur Ärztinnen und Ärzte, auch Angehörige anderer Gesundheitsberufe.


Kleesiek:
Diese Diskussion lässt sich weiterspinnen bis zu der Frage, ob es einen eigenen Facharzt oder ein eigenes Fach „Digitale Medizin“ geben sollte, oder ob das alles nicht eher in einzelnen Fächern aufgeht. Ein Herausgeber einer bekannten medizinischen Fachpublikation, die jetzt ein eigenes Spartenjournal „Digital Medicine“ herausbringt, hat in seinem Editorial geschrieben, er hoffe, dass das Journal in einigen Jahren nicht mehr nötig sein werde, weil Digitalisierung dann in allen medizinischen Disziplinen ganz selbstverständlich ist. Ob dem so sein wird, wird sich noch zeigen.


Bäßler:
Letztlich wollen wir einen Beitrag zum digitalen Transformationsprozess des Gesundheitswesens leisten. Das wird ja nicht nur positiv empfunden. Es geht darum, bei allen Beteiligten im System ein Verständnis zu wecken dafür, dass Digitalisierung und Patientenversorgung nicht nur vereinbar sind, sondern dass digitale Anwendungen helfen können, zum Beispiel die Versorgungsbedürfnisse von Menschen mit Krebs besser zu erfüllen. Wenn es richtiggemacht wird, steht am Ende eine durch IT-Einsatz gestärkte Arzt-Patienten-Beziehung. Dahin kommen wir aber nur, wenn wir die Digitalisierung in der Medizin möglichst breit verankern. Und daran arbeiten wir.


Weitere Informationen:
www.digitale-medizin.net

www.medizinische-fakultaet-hd.uni-heidelberg.de/Wahlfachtracks.111784.0.html

 

Zu den Personen

Prof. (apl.) Dr. med. Daniel Gotthardt
und Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Jens Kleesiek haben gemeinsam mit Frau Dr. med. Franziska Bäßler und ihrem Team das Wahlfach-Track-Angebot „Digitale Medizin“ aufgebaut, welches seit 2017 am Universitätsklinikum Heidelberg angeboten wird und welches sie ab dem Wintersemester 2020 mit weiteren Kollegen koordinieren werden.

Kleesiek ist Professor für Translationale bildgestützte Onkologie am Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin am Universitätsklinikum Essen. Zuvor war er als Radiologe in der Abteilung Radiologie bei Prof. Dr. Heinz-Peter Schlemmer am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) Heidelberg tätig.

Prof. Gotthardt war bis 2017 Geschäftsführender Oberarzt in der Gastroenterologie des Universitätsklinikums Heidelberg, bevor er sich mit der Gotthardt Healthgroup AG (www.gotthardt.com) selbständig machte.

Dr. med. Franziska Bäßler ist Ärztin in der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Universitätsklinikum Heidelberg (Prof. Dr. Hans-Christoph Friederich) und leitet dort die AG Kommunikation. Sie koordiniert den Wahlfach-Track „Digitale Medizin“ an der Universität Heidelberg und forscht zu Medizindidaktik, Arzt-Patienten-Kommunikation und interprofessioneller Zusammenarbeit im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung. Unterstützt wird sie hierbei durch das Olympia-Morata-Habilitationsprogramm der Medizinischen Fakultät Heidelberg.

 

In Kooperation mit Redaktion E-HEALTH-COM